Dieser Weg ist nur etwa 2 km lang - trotzdem liegen alle für unsere Familie im Alltag wichtigen Punkte daran. Wir legen ihn unter der Woche täglich zurück, und es gibt bestimmt 20 Variationen, ihn zurückzulegen (abhängig vom Wetter, dem Inhalt des Kühlschranks, der verfügbaren Zeit).

Morgens bewegen wir uns, meistens mit dem Fahrrad, von West nach Ost. Wir verlassen das Haus gemeinsam oder in Gruppen, biegen am Ende der Libauer Straße nach rechts auf die Wühlischstraße ein und fahren diese entlang. Die Erwachsenen versuchen, nicht in die Straßenbahnschienen zu geraten, und die Kinder, nicht durch Scherben zu fahren (was besonders Montags morgens gar nicht so einfach ist).

Manche von uns biegen dann kurz vor der Holteistraße links ab auf den Schulhof der Zille-Grundschule, quetschen ihr Fahrrad in die letzten freien Fahrradständer und beeilen sich, in die Klassenräume zu kommen. Die anderen wenden sich vor der Schule nach rechts und unterqueren auf der Boxhagener Str. die Gleise, die vom Ostkreuz zum S-Bahnhof Frankfurter Allee führen. Unter der Brücke ist es dunkel, und alle Verkehrsteilnehmer haben hier Stress und schlechte Laune: vor allem die Autofahrer denken, sie müssten jetzt ganz schnell all die vorher verlorenen Stauminuten aufholen.

Hinter der Brücke beginnt Lichtenberg, und die Szenerie ändert sich vollkommen: man denkt kurz, man ist in Suburbia. Es gibt sogar links an der Straße eine richtige, wie es sich gehört halb leer stehende Mini-Mall, mit Kaufland drin und Parkplätzen auf dem Dach.

Wenn man jetzt nicht aufpasst, fährt man gleich rechts um die Ecke unter den nächsten beiden Brücken durch und ist an der Rummelsburger Bucht - stattdessen biegt man (halblegal) links ab und in die Pfarrstraße ein. Es eröffnet sich ein überraschendes Bild: Wie unter einer Glasglocke hat sich hier ein Stück Stadtstruktur erhalten, das eher an Potsdam um 1900 erinnert als an Berlin 2011, der so genannte Kaskelkiez. Früher hat tatsächlich Heinrich Zille mal hier gewohnt und sein "Milljöh" porträtiert, und zu DDR-Zeiten hat man hier historische Filme gedreht, weswegen die Fassaden alle so intakt sind. Hinter den Fassaden haben allerdings bis vor der Wende hauptsächlich die Angehörigen der Insassen der JVA Rummelsburg gelebt - in ziemlich prekären Verhältnissen. Nach der Wende kamen dann gleich die Besetzer, die hier, anders als im Friedrichshain, legalisiert wurden und dem Viertel eine zweite, fast dörfliche Ebene eingeschrieben haben: Sie haben Vereine und eine Kita gegründet, soziale Projekte ins Leben gerufen und Familien gegründet.

Wir haben beim ersten Haus rechts dann schon unser Büro erreicht und kochen erst einmal einen Espresso…

Auf dem Rückweg am Nachmittag haben wir meistens etwas mehr Zeit als auf dem Hinweg, und die brauchen wir auch: vor allem im Friedrichshainer Teil unseres Familienweges stehen jetzt so viele Menschen auf den Gehwegen herum, dass man kaum mit dem (Kinder-)Fahrrad durchkommt. Die meisten sprechen Spanisch oder Englisch und sind so konzentriert auf ihr Herumstehen, dass sie uns gar nicht bemerken. Manchmal machen wir dann mit und essen bei Caramello ein Eis und stehen selbst auf dem Gehweg herum - es ist ein lustiges Gefühl, da zu wohnen, wo andere Urlaub machen, und ich hätte früher nie gedacht, dass ich das ausgerechnet hier mal erleben würde!


rePLACE
Familienweg
submitted by SH, 40-year-old architect
10-20min, usually on bike, five times a week