Es braucht oft keine großen Wege, um die Besonderheiten dieser Stadt zu entdecken. Mein Weg ist daher klein, wird aber regelmäßig, fast täglich von mir gegangen. Er beginnt am Archibaldweg, der an den Gleisen der S-Bahn am Nöldnerplatz entlang führt. Hier finden sich noch die alten Ost-Straßenlaternen, die nachts ein wunderbar warmes und gelbes Licht verbreiten. Auch so manches Haus lässt durch die typische grau-braune Fassade die alte DDR Zeit noch erkennen. Kurz bevor man in die Rupprechtstraße abbiegt, liegt rechts die einzige Kneipe, die es hier in der Gegend bisher gibt. Sie trägt den lustigen Namen Crazybar und macht diesem jedes Wochenende alle Ehre. Ihre Fenster sind mit Angeboten so voll geklebt, dass man das Gefühl bekommt, eigentlich sei immer alles gerade im Angebot. Nie hat sich bis hierher ein Tourist verirrt. Hier feiern die Einheimischen. Der Laden daneben stand lange leer, wurde dann geheimnisvoll mit abgeklebten Fenstern renoviert und weist seinen Kunden nun mit einem kleinen, grünen Hanfmännchen auf den Ladenschild den Weg. Folgt man der Rupprechtstraße bis zur nächsten Kreuzung wird klar, dass die Gegend hier im Umbruch ist. Jedes zweite Haus wird saniert und renoviert. Viele Ladenflächen warten darauf endlich entdeckt zu werden. Immer mehr junge Leute mischen sich im Straßenbild unter die Alteingesessenen Lichtenberger. In der Giselastraße steht ein noch unsaniertes Haus, dessen Bewohner ihre politischen Forderungen an ihre Balkone hängen: AKWs abschalten! Das Erdgeschoss ist ungenutzt, aber der alte Tante-Emma-Laden, der noch zu erkennen ist, weckt die Phantasie: Wie mag es früher hier zugegangen sein? Wer hat hier verkauft, wer eingekauft? Dass das gesamte Gebiet politisch hart umkämpft ist, lässt sich auch an der nächsten Straßenecke gut erkennen. Rechte und Linke hinterlassen ihre Botschaften nachts gesprüht auf Hauswänden und Gullydeckeln, liefern sich einen seltsamen, weil nicht direkt konfrontativen Schlagabtausch, den die gesamte Nachbarschaft verfolgen kann. Diese macht in ihren Wohnzimmerfenstern aber auch eigene politische Einstellungen deutlich: Gaddafi muss weg! Die Leopoldstraße führt dann zurück zum Nöldnerplatz. Man kommt vorbei an einem alten DDR Gelände, dass darauf wartet, dass endlich jemand die verkommenen Bauten einreißt und etwas Neues schafft. Auch hier wieder alte DDR Häuser neben bereits frisch und farbig renovierten Fassaden. Ein Nagelstudio wirbt relativ unscheinbar für sich. Erstaunt stellt man jedoch fest: Wer hier einen Termin bekommen will, muss mindestens drei bis vier Wochen warten. Ebenso voll ist am sonnigen Wochenende das benachbarte Cafe Caramel. Hier trifft sich der Kiez im türkischen Familienbetrieb, um zu moderaten Preisen zu frühstücken. Lichtenberg ist also doch überraschender, als man denkt.

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Lichtenberg
submitted by SH, 30 year old female political scientist
15 min, on foot, daily